ZDF-Moderator im Interview

Mirko Drotschmann: "Am Ende waren es oft einzelne Menschen, die den Unterschied gemacht haben"

22.05.2024, 09.33 Uhr
von Maximilian Haase

Mirko Drotschmann reist durch Deutschland, um das Wissen der Bevölkerung über die 75-jährige Geschichte der Bundesrepublik zu erforschen. Im Interview berichtet er, welche Kenntnisse langsam verblassen und welche Zeitzeugen ihn beeindruckt haben. 

75 Jahre Bundesrepublik

Vor 75 Jahren wurde die Bundesrepublik gegründet, wenige Monate später die DDR. Aber was wissen die Deutschen eigentlich noch über die jüngere Geschichte ihres Landes? Mirko Drotschmann, bekannt geworden als "MrWissen2go" und seit 2020 Teil des "Terra X"-Teams im Zweiten, forscht anlässlich des Jubiläums nach: In der ZDF-Sendung "75 Jahre Deutschland: Der große Test" prüft der 38-Jährige auf einer Reise durchs Land das Wissen der Bevölkerung. Doch nicht nur das: An historisch wichtigen Orten kommt der studierte Kulturhistoriker ins Gespräch mit Zeitzeugen – darunter auch Prominente wie Wolf Biermann, Seyran Ateş und Peter Maffay. Im Interview erklärt Mirko Drotschmann, welche Persönlichkeiten ihn nachhaltig beeindruckten, welche historischen Momente ihn selbst prägten – und ob die Unterschiede zwischen Ost und West wirklich immer noch existieren.

prisma: Welche historischen Ereignisse sind Ihnen – Jahrgang 1986 – denn aus persönlichem Erleben noch in Erinnerung?

Mirko Drotschmann: Für mich ist das sicherlich die deutsche Einheit, auch wenn ich die natürlich nicht so bewusst mitbekommen habe. Aber ich weiß noch, wie ich mit meinen Eltern und meinen Brüdern Anfang der 90er-Jahre eine Woche in Leipzig Urlaub gemacht haben. Wie viel da passierte, wie viel Bewegung da herrschte. Später habe ich die Stadt kaum wiedererkannt, weil sie sich innerhalb kürzester Zeit so stark verändert hatte. Damals empfand ich es als positiv, wie ich die Freude meiner Eltern darüber erlebte, dass man jetzt den Osten bereisen und dort Menschen treffen kann. Bei allem Negativen, was die Wiedervereinigung insbesondere für die Menschen im Osten auch mit sich brachte, blieb mir diese Aufbruchsstimmung in Erinnerung. Und dann wäre da aus der allerjüngsten Geschichte natürlich die Corona-Pandemie ...

prisma: Inwiefern könnte die historisch prägend gewesen sein?

Drotschmann: Ich glaube, sie hat mit Deutschland und unserer Gesellschaft etwas gemacht. Mit der Art, wie wir diskutieren. Wie wir Wissenschaft wahrnehmen und mit Krisen umgehen. Es war das erste massiv einschneidende Erlebnis in meinem erwachsenen Leben, und wahrscheinlich war es das für die meisten meiner Generation.

prisma: Fand in den letzten Jahren ein Wandel statt, was etwa die Wahrnehmung von Fortschritt anbelangt?

Drotschmann: Als Schüler hatte ich das Gefühl, dass immer alles besser wird. Das Zusammenwachsen Deutschlands, die wirtschaftliche Entwicklung. Das hat sich in den vergangenen Jahren teilweise geändert – hierzulande und weltweit. Aber ich bin mit einer anderen Stimmung groß geworden.

prisma: Gerade erleben wir ja Krisen- und Kriegszeiten. Ändert das auch den Blick auf das deutsche Jubiläum?

Drotschmann: Nein, die Vergangenheit bleibt ja gleich. Auch, wenn Dinge vielleicht noch einmal anders bewertet werden und der Blick gerade vielleicht etwas mehr Richtung Zukunft weist. Die Errungenschaften der Bundesrepublik kann man aber nicht einfach beiseite wischen – seien es die Fortschritte in der Gleichberechtigung, die Entwicklung der Demokratie, das Entstehen einer Zivilgesellschaft.

prisma: Musste sich die Demokratie in Deutschland erst beweisen?

Drotschmann: Es gab starke Bewährungsproben wie die Spiegel-Affäre oder den RAF-Terror. Ich denke, an diesen Ereignissen ist unsere Demokratie gereift.

"Am Ende waren es oft einzelne Menschen, die den Unterschied gemacht haben"

prisma: Was ist für Sie das Besondere bei der Beschäftigung mit der Geschichte?

Drotschmann: Was mir im Gespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen immer wieder auffällt: Wie menschlich Geschichte ist. Wie sehr einzelne Individuen dazu beitragen, dass sich Dinge in eine bestimmte Richtung entwickeln. Man lernt die Ereignisse in groben Linien im Geschichtsunterricht – aber am Ende waren es oft einzelne Menschen, die den Unterschied gemacht haben.

prisma: Haben Sie das auch in Ihren Gesprächen für den Film gemerkt?

Drotschmann: Ja. Etwa im Interview mit einer der Stewardessen, die bei der Landshut-Entführung 1977 an Bord war. Sie hat Einblicke gegeben, wie sie die Menschen beruhigt hat – und wie sie sich in einer Doppelrolle befand: Einerseits machte sie sich Sorgen um sich selbst, andererseits wollte sie für ihre Passagiere da sein. Obwohl sie nicht wusste, was passieren würde, verbreitete sie Optimismus. Das hat mich sehr beeindruckt. Im Gespräch mit Wolf Biermann ging es mir ähnlich. Er ist jemand, über den ich viel im Geschichtsunterricht und später im Studium gehört hatte. Ihm dann gegenüberzusitzen und Details aus der Geschichte zu erfahren, war wirklich spannend.

prisma: Hat er auch aus dem Nähkästchen geplaudert?

Drotschmann: Er hat zum Beispiel erzählt, dass er heute noch beim Autofahren mal langsamer, mal schneller fährt. Und dass seine Frau dann immer sagt: "Jetzt bist du wieder unterwegs, wie damals in der DDR." Zu dieser Zeit machte Biermann das, um zu schauen, ob ihm jemand folgt. Wenn jemand das Tempo mit ihm hielt, war ihm die Stasi auf den Fersen. Und sie bestimmt sein Fahrverhalten bis heute. Diese Verhaltensmuster prägen sich ein. Solche Berichte geben einem ein plastischeres Gefühl für die Geschichte.

prisma: Ging Ihnen das auch an manchen Orten so, an die Sie für das Format reisten?

Drotschmann: Das ist natürlich in Berlin immer der Fall. Egal, wo man steht, man steht immer auf einem Stück Geschichte. Das geht mir auch beim hundertsten Mal noch so. Umso mehr, wenn man dann dort noch mit Zeitzeugen unterwegs ist. Ich unterhielt mich etwa mit einem ehemaligen Fluchthelfer dort, wo noch Reste der Mauer zu sehen sind. Das gibt einem ein ganz anderes Gefühl dafür, wie es damals gewesen sein muss. Zum anderen gab es auch Orte, die meine persönliche Geschichte berühren – so wie das Grenzdurchgangslager Friedland.

prisma: Inwiefern hängt das mit Ihrer Biografie zusammen?

Drotschmann: Ein Teil meiner Familie musste nach dem Zweiten Weltkrieg aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten fliehen. Diese Vorfahren von mir sind mutmaßlich dort gewesen. Ich war zum ersten Mal in Friedland und dachte, dass meine Oma oder Uroma an dieser Stelle einmal gestanden haben könnte. So kann man Geschichte förmlich spüren.

"Unsere freiheitliche Verfassung steht unter Druck – und wir müssen sie verteidigen"

prisma: Zum 75-Jahre-Jubiläum haben Sie die Menschen in Form eines Wissenstests auch nach ihren Kenntnissen der jüngeren deutschen Geschichte befragt. Wieviel wissen denn die Leute noch?

Drotschmann: Wir haben Leute auf der Straße befragt, die uns zufällig über den Weg gelaufen sind. Dabei haben wir auch versucht, einen Querschnitt der Bevölkerung abzubilden. Was uns immer wieder auffiel, aber wenig verwunderlich ist: Je weiter es zurückgeht, desto schwieriger wird es. Die meisten wissen noch, wer Konrad Adenauer war. Bei anderen Ereignissen aus der frühen Phase der BRD wird es schon kniffliger. Auch das Jahr der Gründung von Bundesrepublik und DDR haben viele nicht mehr parat. Manche haben wiederum nicht eine konkrete Jahreszahl drauf, aber eine bestimmte Erinnerung dazu. Oder kennen einen gewissen Begriff nicht, kommen aber ins Plaudern, wenn man sie darauf anstößt.

prisma: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Drotschmann: Nehmen wir den Ausdruck "Friedliche Revolution". Selbst in Dresden oder Plauen wussten einige nichts mit dem Begriff anzufangen, die mit Blick auf Alter und Wohnort dabei gewesen sein könnten. Gibt man dann Stichworte, etwa die Nikolaikirche Leipzig, dann kommt es den Leuten plötzlich in den Sinn und es sprudelt aus ihnen heraus. Ähnlich ist es auch mit dem "Wirtschaftswunder". Manche konnten damit erst mal nichts verknüpfen.

prisma: In den letzten Jahren wurde ja oft infrage gestellt, wie vereint Ost und West wirklich sind. Welchen Eindruck konnten Sie dahingehend gewinnen?

Drotschmann: Das ist ein schwieriges Thema, zu dem es ja auch einige Studien gibt, die oft Unterschiedliches feststellen. Ganz subjektiv fiel mir etwa in Dresden auf, dass dort sehr viele Menschen leben, die gar nicht aus Dresden stammen, sondern ursprünglich aus dem Westen stammen. Manche erzählten, dass sie nach der Wiedervereinigung in den Osten kamen und dass es ihnen so gut gefiel, dass sie blieben. Und andersrum gab es das auch. Es findet also viel Bewegung und ein reger Austausch statt. In den Köpfen muss das natürlich auch ankommen. Das ist vielleicht in den großen Städten, in denen wir unterwegs waren, noch ein wenig anders als auf dem Land. Insgesamt merkten wir wenig Distanz zwischen Ost und West. Hin und wieder bekamen wir auch Kritisches zu hören. Da ging es aber eher um Kritik an der Politik – und weniger um "Besserwessis" oder "Jammerossis".

prisma: Was verknüpfen die Menschen also mit "75 Jahren Deutschland"?

Drotschmann: Auf die Frage, was ihnen das Jubiläum bedeutet, sagten bestimmt drei Viertel der Leute: Dass wir in einer Demokratie leben, eine freiheitliche Verfassung und ein starkes Grundgesetz haben.

prisma: Würden Sie das so unterschreiben?

Drotschmann: Absolut. Für mich bedeutet 75 Jahre Deutschland 75 Jahre stabile Demokratie – zumindest auf die Bundesrepublik bezogen. Das Jubiläum bedeutet für mich, Leben in Freiheit und Grundrechte für alle. Dies sollten wir viel mehr schätzen, als wir das heute tun. Unsere freiheitliche Verfassung steht unter Druck – und wir müssen sie verteidigen. Man muss sich vergegenwärtigen, was es davor gab. Der Blick in die Vergangenheit zeigt, wie für unsere Freiheiten gekämpft wurde.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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