Drama im Ersten

"Der verlorene Bruder": Zielgruppenfernsehen im besten Sinn

von Jens Szameit

So schwer und doch ganz leicht: ein lichtechtes Zeitgeschichtsdrama, das daran erinnert, dass vor Kurzem noch deutsche Flüchtlinge unter Lebensgefahr ihre Heimat verlassen mussten.

ARD
Der verlorene Bruder
Drama

Es ist das Wirtschaftswunder auf vier Rädern: der Opel Kapitän 2,6 P. Zum Zungeschnalzen: 90 PS, sechs Zylinder, 160 Stundenkilometer Spitzengeschwindigkeit. "Das P", bebt der Fleischfabrikant Ludwig Blaschke (Charly Hübner) vor Begeisterung über sein auserkorenes neues Gefährt, "steht für Vollsichtpanoramascheibe hinten". Aber was ist der Dank der Gattin (Katharina Lorenz) für die kostspielige Investition ins bürgerliche Glück? "Ich will kein Auto, ich will mein Kind!" – Verloren ging den Blaschkes ihr erster Sohn schon vor vielen Jahren, auf der Flucht aus den deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg. Ist er tot? Hat er als Findelkind überlebt? Wann wird die Suche nach ihm zur Obsession? Solche schweren Fragen behandelt Hans-Ulrich Treichels autobiografisch gefärbter Roman "Der Verlorene" (1998) mit erstaunlicher Leichtigkeit, die auch der geglückten Adaption von Ruth Thoma (Buch) und Matti Geschonneck (Regie) eigen ist. Das Erste wiederholt das Drama von 2015 nun zur besten Sendezeit.

"Findelkind 2307"

Natürlich passt es alles andere als schlecht, dass ein ARD-Film in dieser von der Flüchtlingskontroverse geprägten Zeit daran erinnert, dass vor nicht allzu langer Zeit auch Deutsche alles hinter sich lassen und fern der Heimat neu anfangen mussten. Die Blaschkes haben ihre Chance genutzt. Sie kamen mit nichts und nennen nun, man schreibt die frühen 60er-Jahre, einen Fleisch- und Wursthandel im westfälischen Halle ihr Eigen. Und bald auch einen Opel Kapitän! Doch was nützt das rollende Statussymbol, wenn das Herz noch Trauer trägt, weil der erstgeborene Sohn in den Wirren der Flucht verloren ging? Da erregt "Findelkind 2307" die Aufmerksamkeit von Mutter Elisabeth. Bald ist sie überzeugt: Der Bub, der eine Familie sucht, muss ihr geliebter Arnold sein, den sie als Baby in Todesangst aus der Hand gab und fortan nie wieder sah.

Doch der Weg zur Wiedervereinigung von Mutter und Kind ist mit bürokratischen Hindernissen gesäumt. Schließlich muss die Verwandtschaft wissenschaftlich erwiesen sein, bevor ihr auch nur der Aufenthaltsort des Jungen eröffnet wird. So quälen sich die Blaschkes von einem biomathematischen Gutachten zum nächsten, von der Nasenflügelrandschweifungsmessung zur erbbiologischen Fußabdruckuntersuchung. Was die Eltern nicht ahnen: Der nachgeborene Sohn Max (Noah Kraus) sabotiert ihre Bemühungen nach Kräften. Er fürchtet Nachteile, sollte ihm ein älterer Bruder zu Hause in die Parade fahren.

Ein großartiger Kniff

Die Geschichte aus der Perspektive des präpubertären Bengels zu erzählen, ist ein großartiger Kniff von Buch und Adaption. Aus den Augen des unglücklich verliebten Schulaußenseiters gewinnt das Tragische Leichtigkeit, nimmt sich die Verzweiflung der Eltern mitunter komisch aus. Wie das ja überhaupt auch eine komische Zeit war, damals in den 60-ern. Als sich die biedere Kriegsgeneration mit Phänomenen wie Popmusik und Jugendkultur konfrontiert sah. Wer damals jung war, wird sich bestimmt erinnert fühlen, von den liebevoll rekonstruierten Kulissen, von der pointiert eingefangenen Mentalität der "einfachen" Leute.

Wenn man den Altersdurchschnitt der ARD-Zuschauer kennt, ist es kein Wunder, dass trotz Fußballkonkurrenz 2015 rund 5,8 Millionen Zuschauer das Drama sehen wollten. Eine bärenstarke Quote. "Der verlorene Bruder" ist Zielgruppenfernsehen im allerbesten Sinn.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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