Nominiert für 5 Oscars

Auf den Spuren von „Der Club der toten Dichter“ – Kritik zur Tragikomödie „The Holdovers“

01.02.2024, 08.28 Uhr
von Gregor-José Moser
In "The Holdovers" muss ein ungleiches Trio das Weihnachtsfest miteinander verbringen.
In "The Holdovers" muss ein ungleiches Trio das Weihnachtsfest miteinander verbringen.  Fotoquelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Wäre „The Holdovers“ rund einen Monat früher in die deutschen Kinos gekommen, wäre er der perfekte Weihnachtsfilm. Zum Glück ist die liebenswürdige und berührende Coming-of Age-Tragikomödie auch im Januar ein heißer Tipp.

Der absolute Horror, die beste Zeit des Lebens oder irgendwas dazwischen – wie wir unsere Schulzeit rückblickend beschreiben, hängt von unseren individuellen Erfahrungen ab. Eine große Rolle spielen dabei sicherlich die Lehrerinnen und Lehrer, die uns Mathe, Englisch, Geschichte und Co. näherbringen wollten. Eines scheint jedoch alternativlos zu sein: Mindestens eine Lehrkraft ist bei fast allen Schülerinnen und Schülern extrem unbeliebt.

Genau so einen Lehrer spielt Paul Giamatti in „The Holdovers“ – übersetzt: „Die Überbleibsel“. Gemeint sind hier diejenigen Schüler, die über Weihnachten im Internat bleiben müssen und nicht zu ihren Eltern können. Ausgerechnet der für seine Strenge berüchtigte Geschichtslehrer Mr Hunham (Paul Giamatti) übernimmt die Beaufsichtigung dieser Schüler.

Zeitreise in die 70er Jahre

Trotz der malerischen Winterlandschaft, in der das Internatsgebäude eingebettet ist, blicken die zurückgebliebenen Schüler auf ein wenig zauberhaftes Weihnachtsfest. Bald bekommen jedoch fast alle von ihnen die frohe Kunde: Sie können doch die Weihnachtstage bei ihren Familien verbringen. Nur der rebellische, aber kluge Angus (Dominic Sessa) steckt weiter mit dem mürrischen Mr Hunham und der Köchin Mary (Da’Vine Joy Randolph) fest. Das ungleiche Trio ist jetzt gezwungen das Beste aus der Situation zu machen. „The Holdovers“ punktet vor allem mit seinen liebenswürdig-schrulligen Hauptdarstellern, winterlich-weihnachtlicher Atmosphäre sowie seinem Witz. Regisseur Alexander Payne („Downsizing“) reist mit uns zurück in die USA des Jahres 1970. Dabei macht er keine halben Sachen. Das merken wir schon vor dem eigentlichen Film, wenn die alten Logos der Verleiher und Produktionsfirmen eingeblendet werden. Oder auch bei dem auf altmodisch getrimmten Trailer mit der früher so gängigen Erzählerstimme. Im Film selbst sticht der körnige Look der Aufnahmen sofort ins Auge, der selbst bei jüngeren Menschen eine Art Nostalgie auslöst. Hinzu kommt ein großartiger Soundtrack, der aus akustischen Gitarren und Folklängen á la Bob Dylan oder Leonard Cohen besteht. Allen voran steht der Song „Silver Joy“ von Damien Jurado, der die melancholische, nachdenkliche Stimmung so herrlich einfängt. Vor allem „Silver Joy“ dürfte es bei vielen nach dem Kinobesuch auf die persönliche Playlist schaffen.

Figuren sind alles

Neben Soundtrack und Retrolook besticht „The Holdovers“ vor allem durch seine liebenswürdigen Hauptdarsteller. Eine fantastische Neuentdeckung ist dabei Angus-Darsteller Dominic Sessa. Er verkörpert Angus mit viel Witz und draufgängerischem Charme, überzeugt aber auch in den gefühlvollen und ruhigen Szenen. Paul Giamatti, der in die Rolle des Geschichtslehrers schlüpft, und Regisseur Alexander Payne sind alte Bekannte. Payne, der Giamatti einmal als besten Schauspieler überhaupt bezeichnete, castete Giamatti bereits 2004 für „Sideways“. Sowohl für diesen als auch 2012 für „The Descendants“ gewann Alexander Payne den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch. Bei „The Holdovers“ schrieb er zwar nicht selbst das Drehbuch, die ihm typische Liebe zu seinen Figuren ist dennoch wieder offensichtlich.

Das gilt auch für die Köchin Mary, gespielt von Da’Vine Joy Randolph („The Lost City“, „Only Murders in the Bulding“). Mary trauert um ihren im Vietnamkrieg gefallenen Sohn. Sie ist eine bodenständige Anpackerin, wirkt aber häufig verschlossen. „The Holdovers“ bringt damit drei Figuren zueinander, die oberflächlich betrachtet kaum unterschiedlicher sein könnten. Was sie eint, ist jedoch, dass sie alle Ballast mit sich herumtragen. Sei es Marys Trauer über ihren toten Sohn oder Angus‘ Verletztheit über das Verhalten seiner Mutter, die einen neuen Mann hat. Mr Hunham wiederrum ist ein Charakter, den Alexander Payne schon mehrmals porträtiert hat: Ein älterer Herr, der nicht so recht aus seiner Haut kann, obwohl er es insgeheim gerne würde.

Perfekte Balance aus Tiefsinn und Witz

„The Holdovers“ erzählt von scheinbar unüberwindbaren Gegensätzen, die eigentlich nur mehr Versöhnlichkeit bedürften. Es ist eine Geschichte von Schmerz, Konflikten und Annäherung. Das ist keine bahnbrechende oder sonderliche wendungsreiche Story, aber dennoch liebevoll und mit viel Feingefühl umgesetzt. Obendrein bietet „The Holdovers“ auch jede Menge Witz. Drehbuch sowie Schauspieler, die auch mit einem fantastischen Comedy-Timing glänzen, gehen auch hier Hand in Hand. Es ist wirklich nicht weniger als ein absolutes Versäumnis, dass ausgerechnet „The Holdovers“ wegen der Streiks in Hollywood in Deutschland in den Januar geschoben wurde. Zwar ist es verständlich, dass die Studios nicht wollten, dass die Kinostarts so geballt in den Jahresabschluss 2023 fallen.

Dennoch war die Verschiebung von „The Holdovers“ zweifellos eine schlechte Entscheidung. Mit seiner Wärme, seiner friedvollen Botschaft, dem winterlichen Ambiente und nicht zuletzt dem Fakt, dass die Handlung in den Weihnachtsferien spielt, wäre „The Holdovers“ ein perfekter Dezember-Kinohit geworden. Schlussendlich ist er außerdem der berührendste sowie charmanteste Coming-of-Age-Film mit einem Schulsetting seit „Der Club der toten Dichter“ (1989). Wegen all seiner Qualitäten sowie der nahenden Oscar-Verleihung im März, bei dem „The Holdovers“ fünf Nominierungen (u.a. Bester Film) einheimsen konnte, ist das Interesse des Publikums hoffentlich auch im Frühjahr groß genug. Apropos Preisverleihungen: Ganz im Sinne der Botschaft des Films konnten bei den Golden Globe Awards alle drei Hauptdarsteller einen Preis mit nach Hause nehmen.

„The Holdovers“ läuft seit dem 25. Januar 2024 in den deutschen Kinos.

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