Hilde Gerg im Interview

Der Lebensweg eines Bergmadls

17.01.2022, 07.47 Uhr
von Felix Förster
Hilde Gerg hat als Olympiasiegerin deutsche Sportgeschichte geschrieben.
Hilde Gerg hat als Olympiasiegerin deutsche Sportgeschichte geschrieben.  Fotoquelle: Michael Philipp Bader

Als "Wilde Hilde" wurde Skirennläuferin Hilde Gerg bekannt. Nun ist ihre Biografie erschienen. prisma hat mit der Bayerin über den Slalom ihres Lebens gesprochen.

Ihre Autobiografie heißt "Der Slalom meines Lebens". Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch zu veröffentlichen?

Hilde Gerg: Das habe ich mich auch gefragt (lacht). Ich habe die Idee mit meinem Co-Autor Taufig Khalil entwickelt, den ich in seiner Position als als Sportreporter schon länger kenne. Den Anstoß gaben Anfragen zu kleineren Berichten, wie etwa "Lebenslinien" im Bayerischen Rundfunk. Das ist eine sehr schöne Sendung, in der auch Weggefährten befragt werden. Diese Weggefährten wollten aber in meinem Fall nicht so gerne vor einer Fernsehkamera sprechen, und da dachte ich mir, wenn es genug Stoff für eine 45-minütige Sendung gibt, kann ich auch direkt ein Buch schreiben. Taufig und ich dachten uns, dass wir einfach einmal anfangen und schauen, wohin uns das führt.

"Slalom meines Lebens" – dieser Titel sagt ja aus, dass es nicht nur geradeaus geht. Ist dieses Wortspiel sinnbildlich für Ihr Leben und Ihre Karriere?

Hilde Gerg: Der Titel funktioniert auf mehreren Ebenen: So ist der Slalom meines Lebens natürlich sportlich gesehen mein Olympia-Slalom in Nagano 1998, als ich Gold geholt habe und Olympiasiegerin geworden bin. Das Buch fängt auch sehr schön mit der Situationsbeschreibung dieses Tages in Japan an. Das Bild, das Sie eben genannt haben, passt aber auch zu meinem Leben abseits des Sports. Es geht im Slalom eben auch einmal um die Ecke herum, bevor man wieder auf die Ideallinie zurückkehrt. Diese Erfahrung habe ich im Sport durch meine Verletzungen gemacht, und auch im Leben passt das Bild, etwa, wenn ich an den Verlust meines Mannes Wolfgang denke, der 2010 plötzlich gestorben ist. Deshalb fand ich den Titel passend.

Sie beschreiben in dem Buch sehr anschaulich Ihre Kindheit in den Bergen, wie der Schnee und das Skifahren zu Ihrem alltäglichen Leben dazugehört haben. Wenn Sie jetzt an Ihre Kindheit denken, was kommt Ihnen da zuerst in den Sinn?

Hilde Gerg: Ich habe es total genossen, dort oben am Berg aufzuwachsen, mit dieser Freiheit und auch der Einsamkeit im Gebirge. Meine Eltern hatten eine Hütte, die sie bewirtschaftet haben. Wenn abends die Gäste weg waren und es dann im Sommer um 17, 18 Uhr ruhig war, haben wir noch mit der Familie draußen gesessen und gemeinsam gegessen. Während des Tages waren die Eltern natürlich da und auch erreichbar, aber da konnte man im Betrieb kein ruhiges Gespräch führen. Dafür war dann erst am Abend Zeit. Ich habe schöne Erinnerung an diese Freiheit und Ruhe. Im Winter bist du dann noch mit den Skiern unterwegs gewesen, im Sommer eben zu Fuß.

Die Schilderungen Ihres Verhältnisses zu den Eltern, besonders zu Ihrem Vater, sind sehr berührend. Sie bewerten Ihre Kindheit sehr positiv...

Hilde Gerg: Das kann ich schon so sagen, auch wenn es ab und zu auch einmal hitzig zugegangen ist, wenn so viele Gäste da waren und es viel Betrieb gab. Meine Eltern haben das ja lange Zeit allein gemacht. Meine Mutter hatte da einen brutal langen Tag. Sie hat um sechs Uhr in der Früh angefangen und war um 18, 19 Uhr abends fertig mit der Gastwirtschaft. Aber dann waren wir ja auch noch da und mussten versorgt werden. Meine Eltern waren sehr, sehr fleißig. Natürlich bin ich dann mit 14, 15 schon sehr früh weg von zu Hause, aber sie haben mir auch das Vertrauen dafür gegeben. Ich bin durch das Leben dort oben sehr schnell selbstständig geworden. Ich war schon früh viel allein unterwegs, auch, um in die Schule zu kommen. Diese frühe Eigenständigkeit habe ich sehr positiv wahrgenommen.

Das Skifahren war früh prägend für Sie. Wann haben Sie denn gemerkt, dass Sie da ein Talent haben?

Hilde Gerg: Ich bin gerne im Skiclub mitgefahren, da haben einem die Trainer gesagt, was man machen muss, und wir Kinder und Jugendlichen haben da schnell eine gute Gruppendynamik entwickelt. Mein Bruder, der zwei Jahre jünger ist als ich, hat das auch mal kurz ausprobiert und der hat gleich gesagt, das wäre nichts für ihn. Er ließ sich nicht vorschreiben, wie er da runterfahren musste, sondern wollte lieber sein eigenes Ding machen. Für mich war dieses Team-Gefühl immer das Höchste, das hat mir immer gut gefallen. Dass ich da jetzt irgendwie ein besonderes Talent gehabt hätte, ist mir gar nicht aufgefallen. Ich bin auch nicht Ski gefahren, um irgendwann einmal im Weltcup zu landen. Ich bin einfach gerne Rennen gefahren, auch wenn ich anfänglich sehr nervös war. Es waren dann eher einzelne Schritte, die mich weitergebracht haben. Ich bin aufs Internat gegangen, um die Schule zu schaffen und weiter meinen Sport treiben zu können. Dann kam die nächste Entscheidung: Gehe ich zur Bundeswehr? Das habe ich dann ebenfalls für meinen Sport gemacht.

Ich frage so explizit nach dem Talent, weil Sie im Buch schreiben, dass Sie 1988 bei den Olympischen Winterspielen in Calgary vor dem Fernseher saßen und sich dachten: "Das will ich auch einmal erreichen!" War das dann eher eine kindliche Träumerei?

Hilde Gerg: Das ist mir damals wirklich durch den Kopf gegangen. Trotzdem bin ich die folgenden Jahre nicht an die Rennen herangegangen: "Mist, das hast du jetzt versemmelt, jetzt wirst du ja nie Weltcup-Sieger oder kommst zu Olympia!" (lacht) Es ist eher alles so seinen Weg gegangen, und ich habe stets die richtigen Entscheidungen getroffen.

Ihren Spitznamen "Wilde Hilde" tragen Sie nicht ohne Grund, denn Sie hatten mitunter schon diese Alles-oder-nichts-Mentalität, auch bei Ihrer Goldfahrt in Nagano. Woher kam diese Einstellung?

Hilde Gerg: In Nagano war das der Situation und den Erfahrungen geschuldet, die ich in den Rennen kurz vorher gemacht hatte. Da hatte ich im Weltcup Situationen erlebt, in denen ich gedacht habe, vergiss die Punkte für das Gesamtergebnis, sondern riskiere einfach mal alles. Und dann bin ich in diesem Rennen Zweite geworden, es hatte also funktioniert. Und in Nagano war das dann ähnlich. Ich hatte in der Kombination vorher schon eine Bronze-Medaille geholt und dachte mir, jetzt setz alles auf eine Karte, du möchtest hier jetzt mindestens Zweite werden. Das ist in diesem Fall und auch in anderen Rennen gut gegangen, es gab aber auch Fälle, da hat es nicht funktioniert.

Schauen Sie nach wie vor Skisport und Olympia?

Hilde Gerg: Ja, ich bin nach wie vor sportbegeistert und schaue die Weltcup-Rennen. Wenn man jetzt selbst mit der Familie unterwegs ist oder Ski fährt, dann richten wir nicht alles nach den Startzeiten, aber wenn es passt, schauen wir auch mal, auch gerne in einer Hütte beim Mittagessen. Die Spiele in China 2022 werde ich schon schauen, auch wenn das aufgrund der Zeitverschiebung schwieriger wird.

Sie mussten Ihre Karriere 2005 wegen einer Verletzung beenden. Wie schwer fiel es Ihnen, loszulassen?

Hilde Gerg: Ich wollte meine Karriere damals im Frühjahr beenden, das stand schon vorher fest. Es sollte meine letzte Saison sein, und ich war froh über die Aussicht, auf die nächste Vorbereitung, um körperlich auf einem Top-Level und konkurrenzfähig zu sein, verzichten zu können. Darauf hatte ich mich also schon gefreut, aber der Zeitpunkt durch die Verletzung war dann einfach zu früh. Ich musste im November wegen der Verletzung aufhören, anstatt im März mit einem richtigen Abschied. Das ist der einzige Wermutstropfen.

Wie hat sich der Ski-Sport im Vergleich zu Ihrer aktiven Zeit verändert?

Hilde Gerg: Ich hatte mal einen älteren Trainer, der hat immer gesagt: "Ihr dürft nie vergessen, Ski fährt man immer mit zwei Füßen, zwei Händen und einem Kopf" (lacht). Diese Basis wird man nicht ändern, auch nicht mit dem neuen Material. Abgesehen davon hat sich der Sport natürlich allein durch die Wetter- beziehungsweise Ski-Situation verändert. Die Winter sind kürzer, es gibt immer weniger Skigebiete in niedrigeren Lagen, die einen regelmäßigen Skibetrieb haben. Somit ist das Training für alle komplizierter geworden. Man ist viel mehr unterwegs, und auch der Raum auf den Gletschern ist durch die Masse an Sportlern viel kleiner geworden. Die mentale Einstellung ist aber nach wie vor die gleiche, und das wird sich auch in den nächsten 30 Jahren nicht verändern.

Sie äußern sich in Ihrem Buch auch über den Tod Ihres Mannes Wolfgang Graßl, der 2010 plötzlich verstarb. Wie war da Ihre Gefühlslage während des Schreibens?

Hilde Gerg: Mir persönlich ist es nicht so schwergefallen, darüber zu reden. Ich habe mir eher Gedanken darüber gemacht, was sage ich, vor allem im Hinblick auf die Kinder und die engsten Familienmitglieder. Ich habe es immer sehr wichtig gefunden, darüber zu sprechen. Das hat mir auch in den vergangenen Jahren sehr geholfen. Als Wolfgang starb, waren die Kinder ja noch sehr klein, und da hat man das ihnen dann eher kindlich erklärt. Als sie dann älter wurden, haben sie natürlich auch viel mehr und auch anders gefragt, und es war mir immer sehr wichtig, dass meine Kinder wissen, wenn sie irgendetwas über ihren Papa wissen möchten, dann können sie fragen. Das sollte nie ein Tabu-Thema sein.

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