ProSieben-Reportage

Thilo Mischke in Afghanistan: "Verrat hat in Form leerer Versprechungen stattgefunden"

29.08.2022, 14.03 Uhr
von Christopher Schmitt

Journalist Thilo Mischke reiste für seine ProSieben-Reportage nach Afghanistan und fand ein gebeuteltes, zerrissenes Land vor. Im Interview spricht er über falsche Betrachtungen durch die westliche Brille und einen wirkungslosen Bundeswehr-Einsatz.

Als Auslandsreporter muss man zuweilen dahin, wo es wehtut. Thilo Mischke weiß das. Ein Jahr nachdem sich die internationalen Truppen aus Afghanistan zurückgezogen hatten, besuchte der 41-Jährige das krisengeschüttelte Land, in dem die Taliban erneut die Macht übernommen haben. Frauenrechte wurden praktisch abgeschafft, ein zivilisatorischer Rückschritt vor den Augen der Welt.

Für seine Reportage "ProSieben THEMA. Afghanistan im Griff der Taliban" (Montag, 29. August, 20.15 Uhr, ProSieben) sprach Mischke mit den Talibankämpfern, der Bevölkerung in Stadt und Land sowie einem Ex-Bundeswehrsoldaten über die ernüchternde Lage. Im Interview berichtet der Journalist, Autor und Moderator von Gewehrbeschuss und abgebrochenen Dreharbeiten, vom Versagen des Westens und vom Alltag in einem Land, das von Fundamentalisten regiert wird.

prisma: Herr Mischke, mit welchem Gefühl sind Sie nach Afghanistan gereist?

Thilo Mischke: Mit großem Respekt. Das Land gilt gerade als sicher, aber die Sicherheitslage ist nicht einzuschätzen. Das kann jeden Tag kippen. Wir waren zu einer Zeit da, als eine "Vice"-Journalistin aus dem Land ausgewiesen wurde. Man hatte das Gefühl, dass sich die Situation auf der Straße anspannt. Parallel ist im Nordosten des Landes ein Krieg ausgebrochen, über den in Europa kaum einer etwas mitbekommt. Dort sterben auch viele Taliban-Kämpfer, und das verändert natürlich das eigene Sicherheitsgefühl.

prisma: Wurde es auch richtig gefährlich?

Mischke: Vor Ort gab es mehrere kritische Situationen, eine sogar, die zum Abbruch der Dreharbeiten geführt hat: Es wurde auf uns geschossen. Wir wissen nicht, woher und warum, aber die Kugeln sind sehr nahe an uns vorbeigeflogen. Deshalb sind wir aus Kundus verfrüht wieder abgereist.

prisma: Welche Vorsichtsmaßnahmen kann man im Vorfeld überhaupt ergreifen?

Mischke: Normalerweise trägt man in solchen Krisengebieten schusssichere Westen, aber darauf haben wir verzichtet. Wir sind auch nicht in gepanzerten Fahrzeugen gefahren, um nicht den Eindruck zu vermitteln, wir wären irgendwie wertvoll. Stattdessen sind wir in einem alten Taxi – ein Neunsitzer, Baujahr 1982 – gefahren. Aber wir hatten einen erfahrenen Sicherheitsmann dabei, der sich in Afghanistan sehr gut auskennt.

prisma: Wie unterscheidet sich die Lage in Kabul von der auf dem Land?

Mischke: Zwischen Kabul und dem Land muss man in jeder Hinsicht unterscheiden. In Kabul sind die Taliban informiert, und westliche Journalisten werden nicht festgenommen, drangsaliert oder bedroht. Dort wurde recht freundlich mit uns umgegangen. Der Ton auf dem Land war spürbar aggressiver. "Vor einem Jahr hätte ich dich abgeknallt" – dieser Satz ist an Checkpoints öfter gefallen.

prisma: Wie wollen die Taliban gerne in der Welt wahrgenommen werden?

Mischke: Die Taliban wollen einfach in Ruhe gelassen werden. Aber es gibt auch einen erpresserischen Aspekt: "Wenn ihr uns nicht finanziell unterstützt, dann werden wir gemein, vor allem gegenüber Frauen und Minderheiten." Die westliche Welt steckt in einem Dilemma. Sie würde gerne helfen, aber sobald demokratische Regierungen beginnen, mit den Taliban zu verhandeln, denken andere Terrororganisationen: "Wir müssen einfach nur lange genug durchhalten und irgendwann reden die mit uns."

prisma: Wie präsent sind Frauen noch im öffentlichen Leben?

Mischke: Es ist immer ein extremer Männer-Überschuss in der Öffentlichkeit. In Kabul sieht man noch Frauen unverschleiert Besorgungen machen, doch sobald man die Stadt verlässt, sieht man die Wirklichkeit Afghanistans – und keine Frauen auf der Straße. Die einzigen Frauen, die man sieht, sind Bettlerinnen, die in Schlaglöchern sitzen, die durch Bomben oder Sprengfallen entstanden sind.

prisma: Was berichten die Frauen vor Ort?

Mischke: Wenn du dort mit Frauen Interviews führst, merkst du, wie verzweifelt sie sind. Die einzige Option für Menschen mit Schulbildung ist die Flucht. Ich habe eine Witwe zu Frauenrechten interviewt, und die meinte: "Mir ging es vor der Übernahme der Taliban scheiße, und mir geht es nach der Übernahme der Taliban scheiße." Sie erbettelt für zwölf Kinder im Monat 50 Dollar. Da hat sie keine Zeit, über ihre Rechte nachzudenken.

prisma: Ist Widerstand gegen die Verhältnisse möglich?

Mischke: Eine Region im Nordosten leistet Widerstand. Aber die Afghanen sind von diesem 20 Jahre andauernden Krieg erschöpft. Nach meinen Eindrücken werden Dinge wie die Unterdrückung der Frau für relative Sicherheit in Kauf genommen. Die Menschen denken: "Wir haben keine Freiheit mehr, aber wenigstens sterben wir nicht mehr durch amerikanische Drohnenangriffe auf dem Markt."

prisma: Ist die Demokratie für die Afghanen ein Luxus?

Mischke: Dies ist der große Irrglaube bei der Betrachtung dieses Landes durch die westliche Brille: Demokratie stand außerhalb Kabuls nie zur Debatte, dorthin ist diese Idee nie vorgedrungen. Nach Ansicht dieser Menschen bedeuten westliche Werte den Tod: Luftangriffe, Einbrüche in Häuser und das Abführen von Nachbarn – das verbindet die Landbevölkerung mit dem Westen.

prisma: Wie groß fällt die Zustimmung für die Taliban im Land aus?

Mischke: Die Männer, mit denen ich auf dem Land gesprochen habe, trauen sich nicht, zu sagen, was sie wirklich denken. Für junge Menschen, die in Kabul mit Freiheiten aufgewachsen sind, in der Schule waren und Englisch gelernt haben, ist die Situation der größte Albtraum. Sie haben die westlichen Werte von Gleichberechtigung und wirtschaftlicher Perspektive, die wir vermitteln wollten, verinnerlicht. Da gibt es null Zustimmung für die Taliban. Aber die Zahl der Menschen, die lesen und schreiben können, ist sehr gering in Afghanistan. Für die meisten Leute ist das, was die gerade Herrschenden sagen, die Wahrheit.

prisma: Die Taliban gelten als extrem Kultur-feindlich. Bewahren sich die Afghanen im privaten Rahmen dennoch Kultur?

Mischke: Afghanistan ist auch nicht Nordkorea, zumindest wohlhabende Leute haben Zugang zum Internet. Bilal hat aus Kabul berichtet, dass die Taliban so ziemlich alle wichtigen Kulturgüter des 20. Jahrhunderts zerstört haben. In den 70er- und 80er-Jahren gab es in Afghanistan eine florierende Kinofilmszene. Es gibt auf YouTube nur noch einen fünfminütigen Ausschnitt aus einem solchen Film, und dann trifft sich der 25-jährige Bilal mit seinen Freunden, um den gemeinsam anzuschauen.

prisma: Was macht den Menschen in all dem Chaos sonst noch Freude?

Mischke: Es gibt einfache Formen des Vergnügens, aber das war es dann auch. Ein Beispiel, das zeigt, wie hörig das Volk an dieser Stelle ist: Als ich in Kundus vor dem Hotel saß und gelesen habe, kamen Kinder zu mir. Ich solle schnell das Buch wegpacken, die Taliban kommen jetzt.

prisma: Welche Rolle spielt die verordnete Scharia und welche der landestypische Ehrenkodex?

Mischke: Die Taliban haben diese alten Bräuche vermischt mit ihrer eigenen Deutung des Islams. In Kandahar hatte ich eine Übersetzerin, die sehr gläubige Muslima ist. Sie hat mir erklärt: Dass es Vollverschleierung gibt und dass es Frauen gibt, die Haus und Hof nie verlassen haben, hat nichts mit dem Islam zu tun, sondern mit den Traditionen Afghanistans. Die gebildeten Leute im Land sind sich sehr bewusst, dass die Regeln der Taliban vielen Regeln des Koran widersprechen und das alles Blödsinn ist.

prisma: Hat man in Kabul den Abzug westlicher Truppen als Verrat wahrgenommen?

Mischke: Nicht als Verrat, eher als Schwäche. Der dramatische Verrat hat eher in Form leerer Versprechungen aus dem Westen stattgefunden. Beispielsweise hat unser Kollege Bilal für die Amerikaner gearbeitet und in ihrem Auftrag studiert. Sie haben ihm gesagt, er würde in die USA geholt und dürfe dort weiterstudieren. Ich habe ihm erklärt, dass das wahrscheinlich nicht passieren wird. Seit Monaten schreibt er jeden Tag eine Mail, aber bekommt keine Antwort.

prisma: Sie waren mit dem Ex-Bundeswehrsoldaten Sven unterwegs. Wie blickt er heute auf seinen Einsatz in Afghanistan zurück?

Mischke: Das war total spannend. Er war schockiert und spricht in ganz klaren Worten von "Versagen". Seine Aufgabe war tatsächlich nicht, Krieg zu führen, sondern Werte zu vermitteln. Und er kommt dahin zurück und denkt sich: "Irre, es ist einfach alles so wie 1996." Milliarden wurden ausgegeben, Schulen gebaut, Ausbildungen vorangetrieben – einfach alles für die Katz'.

prisma: Wie wurde die Bundeswehr von den Einheimischen wahrgenommen?

Mischke: Laut Sven und den Menschen, mit denen ich sprach, fand man die Deutschen wohl okay. Die sind wohl relativ respektvoll mit der Bevölkerung umgegangen. Im Gegensatz zu den Amerikanern, die sich nicht an die lokalen Regeln und Gepflogenheiten hielten. In jedem afghanischen Dorf gibt es diese Häuser mit nicht einsehbaren Höfen und hohen Lehmmauern. Privatheit ist sehr wichtig. Da einfach einzudringen, alles umzuschmeißen und Leute mit Plastikbändern am Rücken zu fesseln, ist das Furchtbarste, was man einem Afghanen antun kann.

prisma: Mit welchem Gefühl saßen Sie im Flieger nach Hause?

Mischke: Vollkommene Erschöpfung (lacht). Drei Wochen mit dem Auto durch dieses Land reisen... Hinzu kommt, dass man bei diesen Recherchen nicht weiß, was einen morgen erwartet. Das zehrt so sehr am Gemüt und der Arbeitskraft, dass man sich ins Flugzeug setzt und erst mal mit zittrigen Augen einschläft. Diesmal hat es fast vier Wochen gedauert, bis ich mich wieder in den deutschen Alltag eingefügt habe.

prisma: Sie haben schon für viele Medien viele völlig unterschiedliche Themenfelder beackert. Was steht noch auf der beruflichen Bucketlist?

Mischke: Wenn man in meinen Lebenslauf guckt, sieht man, was mich in dem Moment bewegt hat. Das habe ich dann als Thema bearbeitet. Auslandsjournalismus ist das, was ich immer machen wollte, und alles davor waren nur Wege dorthin. Was mich aber noch sehr reizt, ist die Vermengung der Wirklichkeit mit dem Fiktionalen, etwa Drehbücher schreiben und sich völlig neue Formate auszudenken. Denn Journalismus entwickelt sich immer weiter. Da gibt es bereits Ideen.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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