Netflix macht MeToo zur Serie

"Anatomie eines Skandals": ein Politik-Star vor Gericht

13.04.2022, 14.53 Uhr
von Julian Weinberger

In der neuen Netflix-Serie "Anatomie eines Skandals" steht ein britischer Minister nach Vergewaltigungsvorwürfen vor Gericht. Geschickt mixt "Big Little Lies"-Macher David E. Kelley Justizthriller mit Familiendrama und Politserie.

Macht, Einfluss, dazu ein beachtliches Vermögen und eine Vorzeigefamilie – James Whitehouse (Rupert Friend) hat es geschafft. Obendrein hat der Politiker ein Amt als Minister Großbritanniens inne und gilt als Hoffnungsträger seiner Partei. Doch dann fliegt erst seine Affäre mit seiner Untergebenen Olivia Lytton (Naomi Scott) auf, kurz darauf findet sich der volksnahe Sympathieträger vor Gericht wieder – beschuldigt als Vergewaltiger. Welche Auswirkungen die Anschuldigungen auf seine Frau Sophie (Sienna Miller) und die Familie haben, ob die Vorwürfe wahr sind und welche Geheimnisse James' Vergangenheit birgt, schlüsselt ab 15. April die Netflix-Serie "Anatomie eines Skandals" auf.

Wie der Titel der Produktion nahelegt, seziert das Drama in sechs Akten die Geschehnisse, die Charaktere und führt die vermeintliche Sorglosigkeit einer wohlhabenden Elite ad absurdum. Weil kaum einer im Serienfach es in den vergangenen Jahren so virtuos verstanden hat, die Reichen und Schönen zu demaskieren, verwundert es nicht, dass sich David E. Kelley des Stoffes angenommen hat. Mit "Big Little Lies" gelang dem US-Produzenten ein serielles Meisterwerk im Drama-Genre, das in das privilegierte Umfeld wohlhabender Familien eintaucht und dann schonungslos offen deren Fassaden zusammenbrechen ließ. Dahinter verbargen sich gesellschaftliche Tabuthemen wie physische Gewalt und Depression.

In "Anatomie eines Skandals" widmet sich Kelley nun gemeinsam mit Melissa James Gibson ("House of Cards", "The Americans") dem komplexen MeToo-Thema. Früh scheinen die Macher Täter- und Opferrolle eindeutig zu vergeben: Da ist der charismatische Politiker, der die Zuneigung seiner ihm zugewandten Angestellten ausnutzt und sein Verlangen ohne Rücksicht auf deren Gefühle durchboxt. Obwohl die Schuldfrage früh geklärt zu sein scheint, verliert die Netflix-Serie nicht an Spannung. Überraschende Wendungen inklusive.

Intensität entfaltet die Serie in den kammerspielartigen Gerichtssequenzen, in denen Anwältin Kate Woodcroft (Michelle Dockery, "Downton Abbey") für ihre Mandantin Olivia eintritt. Vor der detailgenauen Schilderung der mutmaßlichen Vergewaltigung kann die Juristin die junge Frau aber nicht bewahren – es ist eine der eindrücklichsten und gleichzeitig unangenehmsten Szenen der kompletten Serie.

Ein korruptes System

Zwar erreicht David E. Kelley mit "Anatomie eines Skandals" nicht die Komplexität und den vereinnahmenden Sog von "Big Little Lies", dennoch zeigt er, dass er zu den begabtesten Serienmachern der Gegenwart zählt. Die Netflix-Miniserie verwebt gelungen Justizthriller, Familiendrama und ein Politbeben, das die mediale Entrüstungsmaschinerie anwirft. Was keiner weiß: Premierminister Tom Southern (Geoffrey Streatfeild) ist nicht nur mit Rupert befreundet, sondern ihre Leben sind ob eines tragischen Zwischenfalls während ihrer Zeit in der elitären Universitätsverbindung der Libertines schicksalhaft miteinander verknüpft. Wie genau, das erfahren Zuschauerinnen und Zuschauer in immer wieder eingestreuten Rückblenden.

Kurzum: Der Skandal zieht immer größere Kreise, samt Klüngelei und Erpressung, und legt dabei das moralisch korrumpierte Politsystem offen. Überhaupt kommen Politiker in "Anatomie eines Skandals" schlecht weg. "Wir Männer sind nun mal so" – chauvinistische Parolen, dahingesagt von alten, weißen Männern, bringen immer wieder toxische Männlichkeit zum Vorschein. Der Pressechef des Premierministers, Chris Clarke (herausragend zynisch: Joshua McGuire), übersteigert das Ganze ins mitunter Unterträgliche. "Wozu in einen Burgerladen, wenn es zu Hause Steak gibt", kommentiert er im Beisein von James' Frau Sophie die Affäre des Ministers. Trotz der weltweiten MeToo-Bewegung scheint bei weitem noch nicht überall ein Umdenken stattgefunden zu haben.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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