Rolf Fuhrmann blickt zurück

Schalkes Vier-Minuten-Meisterschaft: "Dankbar, dass ich das miterleben durfte"

19.05.2021, 08.52 Uhr
von Frank Rauscher

Am 19. Mai 2001, vor genau 20 Jahren also, fühlten sich die Schalker für wenige Minuten als Meister. Sportreporter Rolf Fuhrmann, der damals selbst keine ganz unwichtige Rolle spielte, erinnert sich.

Keine Frage, der Abstieg ist für den finanziell angeschlagenen FC Schalke 04 eine Tragödie. Aber immerhin war es selbst durch die schönste, königsblaue Vereinsbrille schon seit Monaten absehbar, dass das dicke Ende mit großen Schritten naht und unvermeidlich ist. Die Fans konnten sich gewissermaßen seelisch darauf einstellen. – Ganz anders also, als bei den unfassbaren Ereignissen, die sich vor genau 20 Jahren, am 19. Mai 2001, abspielten und alle, die es mit dem Ruhrpott-Klub hielten, urplötzlich in ein tiefes Tal der Tränen stürzten. "Ich glaube ab heute nicht mehr an den Fußball-Gott", stöhnte die Manager-Legende Rudi Assauer irgendwann an jenem Nachmittag, in Fassungslosigkeit vereint mit den Schalker Anhängern und Spielern, die sich allesamt für ganze viereinhalb Minuten als Deutscher Fußballmeister wähnten.

Was dem Verein die Zuschreibung "Meister der Herzen" einbrachte, war für Schalke-Fans die schwärzeste Stunde der Vereinsgeschichte, ein Drama epischen Ausmaßes. Für alle anderen ist das, was sich seinerzeit zum Saisonfinale 2000/2001 beim letzten Spiel im Parkstadion zu Gelsenkirchen zutrug, immer noch einer der packendsten Sport-Thriller aller Zeiten.

Auch der Sportreporter Rolf Fuhrmann wird diesen Nachmittag im Mai 2001 nie mehr vergessen. "Mir kommt es manchmal noch so vor, als wäre es erst vor ein paar Monaten gewesen", sagt der 71-Jährige, der damals als sogenannter Field-Reporter nicht nur mittendrin im Hexenkessel auf Schalke war, sondern durchaus auch seinen eigenen Anteil am Lauf der Dinge hatte. Der ehemalige Premiere- und Sky-Mann, den alle nur "Rollo" nennen, macht heute keinen Hehl daraus: "Das war das Highlight meiner Karriere."

Tatsächlich war das Bundesligafinale 2001 der Wahnsinn in höchsten Dosen: Schalke 04 gewinnt sein letztes Heimspiel nach Rückstand gegen die Spielvereinigung Unterhaching mit 5:3. Gleichzeitig spielten die Bayern, denen ein Punkt zum Titel reichen würde, beim Hamburger SV – sie liegen zum Zeitpunkt des Abpfiffs auf Schalke 0:1 zurück: Hamburgs Sergej Barbarez köpfte den Führungstreffer – nach 89 Minuten. In Gelsenkirchen brachen um Punkt 17.16 Uhr alle Dämme, die Fans stürmten im Überschwang der Gefühle aufs Feld. Es war der Freudentaumel, den man auf Schalke seit dem letzten Titel 1958 herbeigesehnt hatte.

Auch Rolf Fuhrmann glaubte in jenen kurzen Augenblicken, dass Schalke Meister ist. Der Premiere-Field-Reporter bekam nach dem Abpfiff als ersten Gesprächspartner den Schalker Andreas Müller ans Mikro und sagte zu ihm: "Es ist zu Ende in Hamburg, Schalke ist Meister." Eine Auskunft, die sich verbreitete und das bestätigte, was 65.000 im Stadion und Millionen zu Hause am Bildschirm glauben wollten.

"Die haben mich einfach laufen lassen" 

Fragt man Fuhrmann 20 Jahre später, warum er Müller das gesagt hat, antwortet er, dass dies eben die letzte Information gewesen sei, die er aus dem Ü-Wagen bekommen habe. "Spätestens nach diesem Satz hätte aus der Regie doch eine Ansage, der Aufruf zur Korrektur, kommen müssen. Aber da kam nichts. Die haben mich einfach laufen lassen." Hinzukam: Die Stadionleinwand hatte just in dieser Phase einen Moment Sendepause. Und so kam es, dass "Rollo" zum Verstärker des Schalker Glücksgefühls wurde und damit sein eigenes Kapitel in die Sportgeschichte eintrug.

Als Fuhrmann direkt nach seinem Interview "dann diese gespenstischen Bilder von der Übertragung aus Hamburg" auf der wieder funktionierenden Stadionleinwand sah, schwante natürlich auch dem alten Reporter-Hasen Ungeheuerliches. Offensichtlich wurde beim HSV noch gespielt. Auf dem Bildschirm war der Bayern-Spieler Patrik Andersson zu sehen ... Er trat in der vierten Minute der Nachspielzeit zum indirekten Freistoß im Hamburger Strafraum an, und er traf für die Bayern, die sich in allerletzte Sekunde doch noch den Titel sicherten. Auf Schalke, wo sich alle ganze vier Minuten und 38 Sekunden lang mit meisterlichen Gefühlen in den Armen lagen, brach die Welt zusammen. Ein Trauma, das für immer in der königsblauen DNA verankert sein wird.

Fuhrmann betont, dass er sich der epochalen Tragweite damals schnell bewusst war. "Im Angesicht der Bilder auf der Leinwand lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Dieses Gefühl, diese Momente, werde ich nie vergessen", berichtet der legendäre Reporter, der seit 2017 seinen wohlverdienten Ruhestand genießt. "Sie müssen sich das vorstellen: Erst die totale Euphorie und ein paar Augenblicke später das tiefste Tal – fast alle, die ich sah, weinten." Vielleicht, so Fuhrmann, "habe ich in meiner Trance noch zwei, drei kleine Interviews gemacht – aber eigentlich dachte ich gar nichts mehr". Er sei dann relativ zügig nach der ersten ganz großen Aufregung in Richtung seines Hamburger Zuhauses aufgebrochen. "Unterwegs im Auto arbeitete ich das Geschehen erstmals ein bisschen auf."

Vielleicht können es ja wirklich nur Schalke-Fans nachvollziehen, wie das damals war. In welche emotionale Falle sie allesamt mit Karacho gerannt sind. Wie es sich anfühlt, wenn man sich erst am Ziel aller Träume glaubt und viereinhalb Minuten später jäh aus denselbigen gerissen wird. Wie es ist, wenn die Tränen der Freude direkt von den Tränen der größten Verzweiflung abgelöst werden. Rolf Fuhrmann, der alles hautnah miterlebt hat, weiß um das Schicksalhafte dieses verrückten Spiels: "Große Sportmomente können auch aus Trauer und Schmerz entstehen", doziert er. Und vermutlich hat er recht. Es erinnert sich heute doch kaum einer an den wer weiß wievielten Meistertitel der Bayern, die später auch noch das Champions-League-Finale gegen Valencia gewannen. Aber jeder kennt die ergreifende Ballade von den Schalker Meistern der Herzen auswendig. Fußball-Fans haben ein Gespür für so etwas, und schon damals, so belegten es sämtliche Umfragen, hätte es eine breite Mehrheit der Fußballfreunde den Schalkern einfach gegönnt. Auch Rolf Fuhrmann, daraus macht er keinen Hehl.

Für den Reporter selbst blieb das Malheur im Parkstadion ohne negative Folgen. Seine "Schalker Freunde" seien nicht nachtragend gewesen. "Ich muss sagen, es hat mir nicht geschadet", konstatiert er. Ganz im Gegenteil: "Ich war spätestens ab diesem Zeitpunkt bundesweit bekannt. Viele nennen mich seit jenem Tag nur noch der 'Meister-Macher." Damit könne er gut leben, lacht Fuhrmann: "Schalke war der 'Meister der Herzen', ich war eben der 'Reporter der Schmerzen'". Ja, es sei sein voller Ernst: "So ein Finale wird es nie wieder geben. Ich bin dankbar, dass ich das miterleben durfte."

Bleibt die Schuldfrage. Schließlich gibt es kaum etwas, was unter Schalker Anhängern bis heute mehr diskutiert wird, als das, was am 19. Mai 2001 zwischen 17.15 Uhr und 17.19 Uhr im Hamburger Volksparkstadion passiert ist. Rolf Fuhrmann weiß: "Für die meisten Schalker ist bis heute der damalige Schiedsrichter Dr. Markus Merk der Schuldige." Der Referee gab in Hamburg zur Unzeit den Freistoß für die Bayern. Aber streng genommen wäre da auch der damalige HSV-Keeper Mathias Schober zu nennen, der einen Rückpass aufnahm, anstatt den Ball auf die Tribüne zu prügeln. Nicht von der Hand zu weisen ist die These, dass Schalke das Ganze im Grunde schon vorher vergeigt hatte. Man hätte am Spieltag zuvor niemals in Stuttgart verlieren dürfen – da war die Stevens-Truppe zu vorsichtig aufgetreten und kassierte kurz vor Schluss das 0:1.

Fuhrmann freut sich auf Zweitliga-Saison mit Schalke

Vor einigen Jahren hat Rolf Fuhrmann im "Spiegel" den Wunsch geäußert, dass er gerne eines Tages Rudi Assauer "die Schale nach oben bringen" würde. Ein romantischer Gedanke, der nach dem Abstieg der Schalker in dieser Saison in weite Ferne gerückt ist. Überrascht habe ihn der Absturz in Königsblau nicht – zum einen, so der "Field Reporter der Herzen", weil der Abstieg und die katastrophale Saison "die logischen Ergebnisse einer langen Entwicklung" seien. Und zum anderen, das sei sein voller Ernst, "weil wir uns nun auf die wohl stärkste Zweite Liga aller Zeiten freuen dürfen".

Fuhrmann ist "überzeugt, dass es in der kommenden Saison Spieltage geben wird, an denen die Zweite Liga mehr Zuschauer findet als die Bundesliga". Dies sei auch für den Rechte-Inhaber Sky eine große Chance. Er ist sich sicher, dass sein ehemaliger Arbeitgeber "in der kommenden Spielzeit einiges aus dem Hut zaubern wird, um das Paket noch aufzuwerten". Fuhrmann: "Diese Zweitliga-Saison wird alles in den Schatten stellen. Auch was die Zuschauerzahlen für Sky angeht – da gehe ich jede Wette ein."

Ob es mit einem sofortigen Schalker Wiederaufstieg klappt, hängt für ihn von der Stimmung bei S04 ab. "Wenn man richtig Bock hat auf diese Zweite Liga, dann kann es was werden", befindet Fuhrmann, der heute Fußball-Kolumnen für die "Nordwest-Zeitung" und das Bremer Vereinsorgan "Deichstube" schreibt.

Rolf Fuhrmann versichert glaubhaft, den Adrenalin-Kick vom Spielfeldrand nicht zu vermissen. "Ich habe in meiner Zeit bei Premiere und Sky von 1992 bis 2017 alles erlebt, was man erleben kann."

Zumal er "diese Geisterspiele" in Zeiten der Pandemie "zunehmend leidenschaftslos" verfolge. "Inzwischen mache ich den Ton aus, weil mir das Geschrei der Betreuer, Trainer und Spieler auf den Keks geht", bekennt der Fußball-Fachmann, dem bei den "Pandemie-Spielen einfach alles" fehlt: "Die Atmosphäre, die Leidenschaft, die Bratwurst und das Bier."


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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