Schwere Vorwürfe gegen Michael Jackson

"Leaving Neverland": ProSieben strahlt umstrittene Doku aus

von Maximilian Haase

Die Vorwürfe der HBO-Doku "Leaving Neverland" wiegen schwer: Zehn Jahre nach seinem Tod sprechen mutmaßliche Opfer von Michael Jackson darüber, wie der "King of Pop" sie missbraucht haben soll. ProSieben zeigt den brisanten Zweiteiler nun im Free-TV.

"Über 'Leaving Neverland' spricht die Welt"

Die Dokumentation "Leaving Neverland" wirft dem 2009 verstorbenen Superstar Michael Jackson vor, sich des Missbrauchs schuldig gemacht zu haben. Zwei Männer behaupten in dem FIlm, der "King of Pop" habe sie im Kindesalter über Jahre hinweg sexuell missbraucht. Der Film von Regisseur Dan Reed kam Anfang des Jahres beim Sundance Film Festival zur Premiere, später wurde der Zweiteiler bei HBO ausgestrahlt. Nun kommt das umstrittene, insgesamt vierstündige Werk ins deutsche Free-TV: ProSieben sicherte sich die Rechte und zeigt "Leaving Neverland" am Samstag, 6. April, 20.15 Uhr.

Eine Doku zur samstäglichen Primetime? Außergewöhnlich für den Sender, doch angesichts der Thematik überaus wichtig, meint ProSieben-Chefredakteur Stefan Vaupel: "Über 'Leaving Neverland' spricht die Welt. Die Dokumentation und die Reaktionen darauf zeigen, wie breit das öffentliche Interesse an Michael Jackson und den Anklagen gegen ihn ist. Kindesmissbrauch ist eins der größten gesellschaftlichen Tabu-Themen unserer Zeit. Kirche, Künstler und andere haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder das Schweigen ihrer Opfer erkauft. Deshalb zeigen wir 'Leaving Neverland' auf ProSieben."

Emotional oder manipulativ?

Der größte Popstar aller Zeiten – ein pädophiler Vergewaltiger? Die Anschuldigungen könnten schwerer nicht wiegen. Allein, um mitreden zu können, lohnt sich das Einschalten. Jacko ist schließlich auch hierzulande noch immer allpräsent: Songs wie "Man in the Mirror" und "Billy Jean" laufen im Radio und auf Partys rauf und runter, zudem jährt sich brisanterweise sein weltweit betrauerter Tod in diesem Jahr zum zehnten Mal. Tausende Fans werden ihrem Idol huldigen wollen – und zwar ohne das schlechte Gefühl im Hinterkopf, Jackson könnte vielleicht doch eine Art MeToo-Monster gewesen sein.

Die Diskussion, die in den USA in vollem Gange ist, wird nach der Ausstrahlung hier erst so richtig beginnen. Zudem: "Leaving Neverland" ist, ganz im aufwendigen HBO-Style, überaus sehenswert, hochspannend erzählt und mit seltenem Archivmaterial unterlegt. Höchst emotional – die Doku-Kritiker würden wohl sagen: manipulativ – inszeniert sind die Interview-Aussagen der beiden Protagonisten, die zum Teil schmerzhaft intim und detailreich berichten.

Was genau passiert in der Doku?

In "Leaving Neverland" werfen Wade Robson und James Safechuck Michael Jackson vor, sie jahrelang missbraucht zu haben. Regisseur Dan Reed lässt sich die Geschichte der beiden Männer erzählen, die zu jener Zeit Kinder waren. Jackson, so beschreiben sie in langsamen Schritten, teils unter Tränen, habe die jungen Fans im Alter von sieben und zehn Jahren ausgenutzt, sie als "Freunde" von sich abhängig gemacht, zu sich eingeladen und sexuelle Handlungen an ihnen vollführt. Auch die Eltern kommen zu Wort, auch sie seien von Jackson umgarnt worden. Unglaublich scheint es, dass auch sie den Popstar als eine Art Sohn betrachteten, dass sie es in Ordnung fanden, wenn ihre Söhne mit Jackson in einem Bett schliefen.

Die Kinder durften ihrem Idol so nah kommen, wie sonst niemand, erst nur auf der Bühne, später bei sich zu Hause, danach auf Jacksons Neverlandranch. Im Gegenzug mussten sie sich ihm der Doku zufolge fügen: "Er hat mich unglaublich weitergebracht", sagt der heute 36-Jährige Robson im Film – "und er hat mich sexuell missbraucht. Sieben Jahre lang". Die beschriebenen Vorfälle, denen sich die Doku so langsam nähert, dass man verstehen kann, warum die Jungen dem Star vertrauten und verfielen, sind teils unerträglich: vom gemeinsamen Duschen über Sex-Spiele vor Peter-Pan-Figuren und Modelleisenbahnen bis zu inszenierten Hochzeiten mit Diamantringen. Überhaupt: die sexuellen Akte, über welche die Kinder, die den mutmaßlichen Missbrauch damals nicht als solchen empfanden, angeblich schweigen sollten, da sonst alle ins Gefängnis kämen. Michael Jackson, so erzählen die Protagonisten, habe seinen Missbrauch als gottgewollte Liebe dargestellt.

Was ist dran an den Vorwürfen?

Die Aussagen und damit die ganze Dokumentation sind umstritten, da die beiden Männer im Prozess 2005 unter Eid ausgesagt hatten, dass der Sänger sie nie missbraucht habe. Michael Jackson musste sich damals vor Gericht verantworten. Ihm wurde sexuelle Belästigung vorgeworfen, letztendlich wurde er freigesprochen. Das Privatleben des "King of Pop" war schon zu Lebzeiten Objekt zahlreicher Spekulationen und schlimmer Vorwürfe. Ein eingestelltes Ermittlungsverfahren zwischen 1993 und 1994 sowie die Anklage samt Freispruch zwischen 2003 und 2005 prägten das Bild des Popstars, der zumindest einen fragwürdigen Umgang mit Kindern fand. 2003 sagte Jackson: "Lügen laufen Kurzstrecken, aber die Wahrheit läuft Marathondistanzen. Die Wahrheit wird diesen Marathon vor Gericht gewinnen."

Die Wahrheit beansprucht auch Regisseur Reed für sich. Er sagt, Robson und Safechuck seien "sehr glaubwürdige Zeugen", für ihre Vorwürfe gebe es starke Beweise. Doch schon kurz nach der Ausstrahlung kamen Zweifel auf: Ein Biograf Jacksons beschuldigte die Macher in einem wesentlichen Detail der Falschdarstellung. Dabei geht es um eine Aussage Safechucks, Jackson habe ihn an einem Bahnhofsstations-Nachbau der Neverlandranch missbraucht. Die Station sei jedoch erst zwei Jahre nach dem behaupteten Vorfall entstanden, so der Biograf Mike Smallcombe. Reed räumte die falsche Darstellung inzwischen ein und schrieb: "Ja, es scheint keinen Zweifel am Datum der Station zu geben. Das Datum, bei dem sie falsch liegen, ist das Ende des Missbrauchs."

Wie waren die Reaktionen auf die Doku?

Auf die Premiere und HBO-Ausstrahlung folgte weltweites Entsetzen über die mutmaßlichen Taten sowie Empörung und Unglaube bei vielen Fans. Auf Seiten wie themichaeljacksonallegations.com oder leavingneverlandfacts.com werden Robson und Safechuck von Jackson-Fans der Lüge bezichtigt – ein beliebter Vorwurf lautet, sie seien nur auf das Geld aus. Robson eröffnete bei Oprah Winfrey, er habe wegen seiner Enthüllungen in der Dokumentation sogar Todesdrohungen erhalten. Auf Oprah Winfrey prasselte nach der Show massive Kritik ein, und sie erhielt Hassnachrichten. Sie sei der Familie des Sängers in den Rücken gefallen, obwohl diese Winfrey wie eine Freundin behandelt hätten, so der Tenor der Kritik.

Michael Jacksons älterer Bruder Jermaine keilte auf Twitter gegen die Doku. Er schrieb, viele in der Medienbranche nähmen "Leaving Neverland' für bare Münze und formten ein Narrativ, ohne sich für Fakten, Beweise, Glaubwürdigkeit zu interessieren. Schon vor der Ausstrahlung von "Leaving Neverland" hatten Jacksons Nachlassverwalter eine Klage über 100 Millionen Dollar gegen die Macher eingereicht. Derweil entbrannte im Internet und den Medien eine Diskussion darüber, wie man mit Michael Jacksons fraglos genialem Werk nun umgeht.

Diskussionen um Michael Jacksons Musik

Hier liegt neben den angeblichen Taten des King of Pop der größte öffentliche Streitpunkt. Sollten die Vorwürfe stimmen – wie geht man damit um? Darf man Jacksons Hits noch hören, kann man noch unbeschwert dazu tanzen? Ist es möglich, das Werk von der Person seines Schöpfers zu trennen? Fragen, die man sich auch im Zuge der MeToo-Debatte stellte, man denke an Kevin Spacey. Bei Jackson scheint die Sache ebenso komplex: Der britische Radiosender BBC Radio 2 etwa beschloss, vorerst keine Musik von Michael Jackson mehr zu spielen. Ein Sprecher der BBC begründete die Entscheidung damit, dass "jedes Musikstück nach seinen Verdiensten beurteilt" werde: "Entscheidungen, was wir auf unseren unterschiedlichen Kanälen spielen, werden immer basierend auf den relevanten Zielgruppen und unter Berücksichtigung des Kontexts getroffen." Bleibt der "King of Pop" unantastbar – oder wird er zum NoGo? Ein Diskurs, der nach der Ausstrahlung hierzulande auch in Deutschland stattfinden dürfte.

Wie geht ProSieben mit dem Thema um?

Beim Sender ist man sich der Sensibilität des Stoffes bewusst. Zur Ausstrahlung arbeitet ProSieben mit dem "Hilfetelefon Sexueller Missbrauch" zusammen (ein Angebot des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs). Am Abend der Ausstrahlung soll on air, online und in den sozialen Medien mehrfach sowohl auf die Telefonnummer und auch das Hilfeportal unter www.hilfeportal-missbrauch.de hingewiesen werden. Unter der Nummer 0800-22 55 530 sind zur Ausstrahlung am Samstagabend die Mitarbeiter der Beratungsstelle für Betroffene, Freunde oder Verwandte den ganzen Abend erreichbar.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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