"Der Turm"

"Tatort": Ein Fall für Kommissar Kafka

von Jens Szameit

Wer mal in Frankfurt durch die großen Ausfallstraßen der schmuckloseren Bezirke flaniert ist, wird es sich vielleicht auch gefragt haben. Gesichtslose Hochhäuser, so weit das Auge reicht. Aber kein Firmenschild weit und breit. Wer hockt da hinter anonymen Glas- und Betonfronten? Und was treiben die Leute dort? Um genau so einen modernen Un-Ort geht es im Festtags-"Tatort" aus der Bankenmetropole. "Der Turm" ist er betitelt. Das klingt nicht von ungefähr nach "Der Bau", "Das Schloss" oder "Der Process". Mehr kafkaeske Verlorenheit war selten beim deutschen Renommierkrimi.

ARD
Tatort: Der Turm
Kriminalfilm • 26.12.2018 • 20:15 Uhr

Als "ziemlich hermetische Angelegenheit" wird das titelgebende Hochhaus im Film von Autor und Regisseur Lars Henning ("Zwischen den Jahren") bezeichnet, und das ist fast noch untertrieben. Hinein gelangt man "unbefugt" nur ganz schwierig, aber einmal fällt sozusagen etwas heraus.

Aus einem der oberen Stockwerke ist eine junge, nur mit Slip bekleidete Frau nächtens auf den Asphalt gestürzt. Weil Kollege Brix (Wolfram Koch) hinter einem Besenwagen (!) feststeckt und die KTU gleichfalls auf sich warten lässt, geht Anna Janneke (Margarita Broich) "bewaffnet" mit ihrer Fotokamera allein ins Turminnere. Am Fenster hatte sie verdächtige Schemen erspäht. Zu Bewusstsein kommt die Kommissarin erst wieder mit Schädelhirntrauma im Krankenhaus. Der mutmaßliche Täter hat sie niedergestreckt.

Ihre Erinnerungen an den Zwischenfall sind infolge des Schlags weitgehend erloschen. Aber immerhin hat die begeisterte Fotografin Janneke (für ihre Darstellerin gilt übrigens dasselbe) zahlreiche Bilder geschossen. Einen hübschen "Blow up"-Moment gönnt das Drehbuch der Ermittlerin. Stapelweise jagt sie unterbelichtete Schnappschüsse aus dem Drucker. Doch in der Vergrößerung kommt wie einst bei David Hemmings im Antonioni-Filmklassiker nicht die Wahrheit zum Vorschein, sondern nur immer gröberes Pixelwerk. Eine leidlich intellektuelle Pointe.

Aber derlei verkneifen sie sich beim HR-Krimi ja höchst selten, und so erwartet einen mit diesem am zweiten Weihnachtstag recht deplatziert wirkenden "Tatort" alles andere als ein klassisches Ermittlerstück.

Als wäre er einer nachtgrauen Kafka-Parabel entsprungen, sieht man den auf sich gestellten Analog-Fahnder Paul Brix an einer Welt verzweifeln, die er nicht mehr versteht. Irgendein kasachisches Konsortium hat die Büroräume angemietet, in denen IT-Spezialisten für verschiedene Subunternehmen Algorithmen fürs "Micro-Trading" von Aktien entwickeln. Auch gibt es Hinweise auf eine aus dem Ruder gelaufene Sexparty – das Opfer arbeitete als Escort-Dame.

Echte Ermittlungsfortschritte stellen sich aber kaum ein. Immer wenn es – zäh – voranzugehen scheint, fegen die Turm-Security oder Katja Flint als strammer Anwaltsbesen dazwischen. Höhere Mächte scheinen schützende Hände auszubreiten. Wenn nur der quirlige Augenzeuge (Rauand Taleb) reden würde! Es gleicht einer zermürbenden Farce.

Wer das Weihnachtsfest mit ähnlich sarkastischen Kategorien versehen würde, dürfte sich bei diesem mutig auserkorenen Feiertagsspecial emotional prima aufgehoben fühlen. Wer aber so gerne "Tatort" schaut, weil die Kommissare die Unordnung am Ende verlässlich aus der Welt schaffen, sollte besser vorsorgen. Zwei Staffeln "Derrick" auf DVD braucht es sicherlich, um den Seelenfrieden wiederherzustellen.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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